Der Steppenreiter

      
 
 
   

Tempel der Schützen 

Sanjusangendo
Tempel der Schützen

Wer Kyoto besucht, wird wohl zwangsläufig einen Abstecher zum Sanjusangendo-Tempel machen. Die Anlage ist inzwischen schon über 800 Jahre alt, hat im Laufe der Zeit ihre bunte Bemalung dem Wind und dem Regen überlassen und etablierte sich im Osten der alten Kaiserstadt als eine der Nationalheiligtümer Japans. Der Tempel an sich wurde vor allem durch seine 1000 Buddha-Statuen berühmt, sämtlichst individuell erstellt und von feinem Plattgold überzogen. Musashi soll hier seine Kämpfe gegen die in Kyoto ansässige Schwertschule der Yoshioka ausgefochten haben und heute karren Reisebusse Massen von Touristen zu seinen ehrwürdigen alten Hallen...

Sanjusangendo


In der Welt der Kriegskünsten machte sich der Sanjusangendo jedoch wegen eines völlig anderen Grundes einen Namen und gelangte so unter den Samurai zu Berühmtheit. Auf seinem Territorium wird seit dem 16. Jhdt. das wohl schwierigste und spektakulärste Bogenschießen Japans zelebriert - das Toshiya.
Toshiya übersetzt man am ehesten mit "der Pfeil, welcher sein Ziel trifft). Dies mag vielleicht simpel klingen, die Umstände, unter denen jedoch geschossen wird sind mehr als einfach. Hauptevent des Wettkampfes war das Oyakazu (Große, viele Pfeile), ein Ereignis, welches 1606 ins Leben gerufen wurde. Das Schießen wird einmal jährlich, meist Ende des Frühlings, ausgetragen und beginnt um 18.00 Uhr. Ende des Oyakazu ist erst am Abend des nächsten Tages, was heißt, daß der Schütze 24 Stunden lang ununterbrochen Pfeil auf Pfeil zum Ziel schicken muß. Quasi ein Bogen-Marathon unter erschwerten Umständen. Das im Sanjusangendo ausgetragene Toshiya findet über eine Distanz von 119,9 m statt. Das spezielle Handicap besteht darin, daß der Schütze auf der Veranda des Tempelgebäudes steht. Die Flugbahn des Pfeils wird dabei von der Dachhöhe der Veranda (5,66 m) und deren Breite (2,20m) beschränkt. Geschossen wird auf der Westseite des Tempelgebäudes, von der Südseite nach Norden. Statt der herkömmlichen Zielscheiben aus Stroh verwendete man beim Toshiya ein großes Tuch mit aufgemalten Ringen (Tani Heisoku). Ein neben dem Tuch postierter Schiedsrichter gab mit Fackel oder Fächer die Treffer an einen Helfer weiter, welcher sie in ein Pfeil-Rekord-Buch (Yakazucho) eintrug.

Toshiya
Die berühmte West-Galerie - Blick vom Süden nach Norden (Schußrichtung)

Während der Nachtzeit sorgten Helfer und Feuerwehrmänner dafür, daß die Schußbahn mit Leuchtfeuern erhellt war und alle Teilnehmer fielen nach jeweils 500 Schuß in einen lauten Beifall ein. Von den Wettschießen der letzten Jahrhunderte zeugen noch immer Spuren am Gebälk des alten Tempels - Pfeile stecken noch in den Trägern des Daches und die spezielle eiserne Verschalung der mächtigen Säulen des Gebäudes ist an allen Stellen durchlöchert.
Einer der besten Schützen, welcher im Sanjusangendo seine Kunst zur Schau stellte und auch als solcher im Yakazucho verewigt ist, war Daihachiro Wasa, ein Krieger aus Kishu. Er schoß am 7. April 1686 in einer Zeit von 24 Stunden 13.053 Pfeile über die Veranda, wovon 8.133 ihr Ziel trafen. Dies entsprach einem Durchschnitt von 544 Pfeilen je Stunde oder 9 je Minute. Daihachiro Wasa war zu diesem Zeitpunkt 18 Jahre alt.

Toshiya
Ein einsamer Pfeil, der noch im Dachgebälk steckt kündet noch vom letzten großen Schießen.

Für Knaben, die das 15. Lebensjahr noch nicht überschritten hatten und somit noch nicht den Initationsritus des Gempukufestes vollzogen hatten, stand eine eigene Schießdisziplin zur Wahl. Auf eine Distanz von 60 m vollführten auch sie das 24 Stunden-Schießen, welches Hando-i (Halber Weg Schuß) genannt wurde.
Einer der besten seines Faches war ein Junge von 13 Jahren, Shoyo Noro aus Kishu. Er brachte im Jahr 1774 in den geforderten 24 Stunden 11.715 Pfeile zum Ziel, wovon fast alle als Treffer verzeichnet werden konnten.

Toshiya

Über die Jahrhunderte haben die jährlichen Bogenwettbewerbe auch an den mächtigen Holzsäulen Spuren hinterlassen. Selbst die in Schußrichtung mit eisernen Bändern geschützten Elemente zeigen deutlich Einschüsse und vermitteln ein Bild von der riesigen Anzahl von Pfeilen, die hier über die Galerie geschossen wurden.

Weitere Disziplinen des Toshiya sind die beiden Wettbewerbe des Hyaku-i (100 Schuß), wobei von 100 abgeschossenen Pfeilen die höchstmögliche Trefferzahl zu erreichen ist, sowie das Sen-i (1000 Schuß), welches nach den gleichen Regeln wie das Hyaku-i abgehalten wird. 

Hinweise zum Sanjusangendo:
Der offizielle Name des Tempels heißt Rengeo-in, umgangssprachlich nennt man ihn in Japan jedoch Sanjusangendo. 
Sanjusangen bedeutet sinngemäß 33 Nischen, was sich auf die Abstände zwischen den gewaltigen Holzsäulen in der Haupthalle bezieht. Seine Gründung bezieht der buddhistische Tempel auf Taira Kiyomori und das Jahr 1164 und gilt somit als eine der ältesten Anlagen Japans. Die Taira waren zu seiner Zeit eines der führendsten japanischen Adelshäuser überhaupt. 1249 brannte der Tempel infolge eines Großfeuers vollständig nieder, wurde 1266 jedoch wieder originalgetreu erbaut. Die Haupthalle des Tempels wurde im alten japanischen Wayo-Stil errichtet und blieb 700 Jahre in diesem Zustand. Erst dieses Jahrhundert wurden erste Rekonstruktionsarbeiten an der Anlage vorgenommen.

Script: Ulf Lehmann


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