|
Initiationsprüfungen der sibirischen Schamanen
Folgendes wird über die Prüfungen erzählt, die die sibirischen
Schamanen während ihrer Initiationskrankheiten erdulden müssen. Sie liegen drei bis neun
Tage lang, manchmal noch länger, bewusstlos und fast leblos in der Jurte oder an einem
einsamen Ort. Während dieser ganzen Zeit sprechen und essen sie nicht. Einige scheinen
sogar das Atmen eingestellt zu haben und wären beinahe begraben worden. Ihre Kleider und
ihr Lager sind mit Blut getränkt. Wenn sie zum Leben zurückkehren, erzählen sie, sie
seien von den Dämonen oder den Geistern der Vorfahren zerstückelt worden: ihr Fleisch
sei abgekratzt, ihre Knochen seien gereinigt, ihre Körpersäfte entfernt und ihre Augen
ausgerissen worden. Bei manchen wurde das Fleisch mehr oder weniger lange gekocht; andere
haben neues Fleisch und frisches Blut erhalten. Schließlich sind sie wieder zum Leben
erweckt worden, aber mit einem völlig erneuerten Körper und mit der Gabe des
Schamanisierens ausgerüstet.
Nach einem jakutischen Bericht tragen die Geister
den künftigen Schamanen in die unterirdische Welt und schließen ihn drei Jahre lang in
ein Haus ein. Hier erlebt er seine Initiation: die Geister schneiden ihm den Kopf ab und
legen ihn auf die Seite, denn der Kandidat soll mit eigenen Augen seiner Zerstückelung
zusehen. Darauf zerhauen sie ihn in kleine Stückchen, die sie unter die Geister der
verschiedenen Krankheiten verteilen. Nur unter dieser Bedingung erlangt der künftige
Schamane die Macht zu heilen. Darauf werden seine Knochen mit neuem Fleisch bekleidet und
in manchen Fällen gibt man ihm auch frisches Blut. Nach einem anderen Bericht
zerstückeln schwarze »Teufel« den Körper des künftigen Schamanen und werfen die
Fleischstücke als Opfergaben in verschiedene Richtungen. Dann stoßen sie ihm eine Lanze
in den Kopf und schneiden ihm den Kinnbacken ab.Ein samojedischer Schamane erzählte
Lehtisalo, dass die Geister ihn überfallen und in Stücke geschnitten hätten, wobei sie
ihm auch die Hände abschlugen. Sieben Tage und sieben Nächte blieb er bewusstlos auf dem
Boden ausgestreckt, während seine Seele im Himmel weilte.
Aus einem langen und wechselvollen autobiographischen Bericht, den
ein avamsamojedischer Schamane A.A. Popov gab, wollen wir einige bezeichnende Episoden
herausgreifen. An den Pocken erkrankt, war dieser künftige Schamane drei Tage bewusstlos,
fast tot, so dass man ihn am dritten Tag beinahe begraben hätte. Er sah sich in die
Unterwelt hinabsteigen und wurde nach zahlreichen Ereignissen auf eine Insel gebracht, in
deren Mitte sich eine Birke bis zum Himmel erhob. Das war der Baum des Herrn der Erde, und
der Herr gab ihm einen Ast, damit er sich daraus eine Trommel mache. Dann kam er zu einem
Gebirge. Als er durch eine Öffnung eindrang, begegnete er einem nackten Mann, der mit
einem Blasebalg neben einem riesigen Kessel arbeitete, der sich auf dem Feuer befand. Der
Mann ergriff ihn mit einer Zange, schnitt ihm den Kopf ab, teilte seinen Körper in kleine
Stücke und warf alles in den Kessel. So kochte er den Körper drei Jahre lang und
schmiedete ihm dann den Kopf auf einem Amboss. Schließlich fischte er seine Gebeine auf,
die in einem Fluss schwammen, setzte sie zusammen und bedeckte sie mit Fleisch. Während
seiner Abenteuer in der anderen Welt begegnete der künftige Schamane vielen Halbgöttern
in menschlicher und tierischer Gestalt, und jeder offenbarte ihm bestimmte Aspekte der
Lehre und brachte ihm die Geheimnisse der Heilkunst bei. Als er in seiner Jurte bei den
Seinigen erwachte, war er initiiert und konnte schamanisieren.
Ein tungusischer Schamane erzählte, dass die
Schamanen Ahnen ihn während seiner Initiationskrankheit mit Pfeilen durchbohrt hätten,
bis er das Bewusstsein verloren habe und zu Boden gefallen sei; dann zerschnitten sie ihm
das Fleisch, teilten seine Knochen ab und zählten sie: hätte einer gefehlt, so hätte er
nicht Schamane werden können. Nach Aussage der Burjäten wird der Kandidat von den
Schamanen-Ahnen gequält; sie schlagen ihn, schneiden ihm mit einem Messer das Fleisch ab,
kochen es usw. Eine Teleutenfrau wurde Schamanin, nachdem sie in einer Vision unbekannte
Männer ihren Körper in Stücke schneiden und in einem Topf kochen sah. Nach der
Überlieferung der Altai-Schamanen öffnen die Geister der Vorfahren ihnen den Bauch,
essen ihr Fleisch und trinken ihr Blut.
Diese wenigen Beispiele genügen, um zu zeigen, dass die
Initiationskrankheiten ziemlich genau dem Grundschema jeder Initiation folgen:
- Marter durch die
Hand der Dämonen und Geister, die die Rolle der »Initiationsmeister« spielen;
- ritueller Tod,
vom Patienten als Abstieg in die Unterwelt erlebt (dem zuweilen ein Aufstieg in den Himmel
folgt);
- Auferstehung zu
einer neuen Seinsweise: der eines geweihten Menschen, das heißt eines Menschen, der
fähig ist, persönlich mit den Göttern, Dämonen und Geistern zu kommunizieren. Die
verschiedenen Arten von Leiden, die der künftige Schamane erfährt, werden als ebenso
viele religiöse Erfahrungen gewertet: die psychopathologischen Krisen, so erklärt man,
veranschaulichen den Raub der Seele durch die Dämonen oder seine ekstatische Reise in die
Hölle oder in den Himmel; die körperlichen Schmerzen gelten als durch die Zerstückelung
verursacht. Doch wie immer die Natur der Leiden sein mag, sie spielen in der Ausbildung
des Schamanen nur insofern eine Rolle, als dieser ihnen eine religiöse Bedeutung beimisst
und sie aus diesem Grunde als unerlässliche Prüfungen für seine mystische Verwandlung
auf sich nimmt. Denn man darf nicht vergessen, dass auf den Initiations- »Tod« stets
eine »Auferstehung« folgt; das heißt in Begriffen der psychopathologischen Erfahrung
ausgedrückt, dass die Krise überwunden und die Krankheit geheilt ist. Ob der Schamane
eine neue Persönlichkeit erlangt, hängt zum größten Teil von seiner Heilung ab.
Wir haben bisher nur sibirische Beispiele
angeführt, doch das Thema der Initiationszerstückelung ist viel weiter verbreitet.
Während der Initiation der araukanischen Schamanen macht der Meister die Anwesenden
glauben, dass er dem Neophyten die Zunge und die Augen austausche und ihm den Bauch mit
einem Stab durchbohre. Bei den River-Patwin-Indianern heißt es, dass dem Aspiranten der
kuksu-Gesellschaft von Kuksu selbst der Nabel mit einer Lanze und einem Pfeil durchbohrt
wird. Er verscheidet und wird durch einen Schamanen wieder auferweckt. Bei den Sudannegern
der Nubaberge heißt die erste Initiationsweihe »Kopf«, denn »man öffnet den Kopf des
Novizen, damit der Geist hinein kann«.
Auf Malekula enthält die Initiation des Medizinmannes unter anderem
die Zerstückelung des Neophyten; der Meister schneidet ihm die Arme, die Füße und den
Kopf ab und bringt sie dann wieder an ihren Platz. Bei den Dajak behaupten die alten
manang, dass sie dem Kandidaten den Kopf abschneiden, sein Gehirn entfernen und waschen,
um ihm einen helleren Verstand zu geben.` Schließlich sind, wie wir gleich sehen werden,
die Zerstückelung des Körpers und die Auswechslung der Eingeweide wesentliche Riten in
einigen Initiationen de] australischen Medizinmänner. Die initiatorische Zerstückelung
der Schamanen und Medizinmänner verdiente eine lange vergleichende Studie, denn die
Ähnlichkeiten mit dem osirischen Mythos und Ritual einerseits und der rituellen
Zerstückelung des hinduistischen meriah andererseits sind verwirrend und konnten bisher
nicht erklärt werden.
Eines der spezifischen Merkmale der schamanischen Initiationen ist
neben der Zerstückelung des Kandidaten seine Skelettierung. Man begegnet diesem Motiv
nicht nur im Bericht über die Krisen und Krankheiten derer, die von den Geistern zum
Schamanen »erwählt« worden sind, sondern auch in den Erfahrungen jener, die ihre
schamanischen Kräfte durch eigene Anstrengungen nach langem und mühsamem Suchen erworben
haben. Bei den Ammasilik-Eskimo beispielsweise verbringt der Lehrling lange Stunden in
seiner Schneehütte, um zu meditieren. In einem bestimmten Augenblick fällt er »tot«
hin und bleibt drei Tage und drei Nächte leblos liegen; während dieser Zeit verschlingt
ein riesiger weißer Bär sein ganzes Fleisch und reduziert ihn auf ein Skelett. Erst nach
dieser mystischen Erfahrung erhält der Lehrling die Gabe zu schamanisieren. Die angakut
der Igluliek-Eskimo sind imstande, ihren Körper von Fleisch und Blut zu befreien und
lange Zeit ihr eigenes Skelett zu betrachten.
Fügen wir hinzu, dass das Betrachten der eigenen Tötung durch die
Dämonen und die schließliche Skelettierung eine der bevorzugten Meditationen des
indosibirischen und mongolischen Buddhismus bildet. Es ist auch daran zu erinnern, dass
das Skelett ziemlich häufig auf die Tracht des sibirischen Schamanen gezeichnet wird. Wir
haben es hier mit einer sehr alten religiösen Vorstellung zu tun, die den Jägerkulturen
eigentümlich ist: der Knochen symbolisiert die letzte Wurzel des animalischen Lebens, den
Mutterschoß, der unablässig das Fleisch hervorbringt. Vom Knochen aus werden die Tiere
und die Menschen wiedergeboren; sie verharren eine Zeitlang im fleischlichen Dasein, und
wenn sie sterben, reduziert sich ihr »Leben« auf das im Skelett konzentrierte Wesen, aus
dem sie von neuem geboren werden." Auf ein Skelett reduziert, erleben die künftigen
Schamanen den mystischen Tod, der es ihnen erlaubt, sich in die andere Welt zu begeben,
die Welt der Geister und der Vorfahren, und an ihrem Wissen teilzuhaben. Sie werden nicht
von neuem »geboren«, sondern »neu belebt«: ihr Skelett wird zum Leben zurückgebracht,
indem es neues Fleisch erhält.
Es handelt sich um eine religiöse Vorstellung, die sich deutlich von
der Auffassung der Ackerbauern unterscheidet; diese sehen in der Erde die letzte Quelle
des Lebens und vergleichen folglich den menschlichen Körper mit dem Samen, den man in die
Scholle senken muss, damit er keimen kann. In der Tat sahen wir, dass in den
Initiationsritualen zahlreicher ackerbautreibender Völker die Neophyten symbolisch
begraben werden oder die Regression in den embryonalen Zustand im Schoß der Mutter Erde
erleiden. Das Initiationsszenarium der nordasiatischen Schamanen enthält keine Rückkehr
zur Erde (symbolische Beerdigung, Verschlungenwerden von einem Ungeheuer usw.), sondern
die Vernichtung des Fleisches und folglich die Reduzierung des Lebens auf sein letztes und
unzerstörbares Sein.
TOP
Initiationsriten
Wenn der Neophyt bewusstlos in der Jurte liegt, ruft die Familie
gewöhnlich einen Schamanen, und dieser wird später die Rolle des Lehrers übernehmen. In
anderen Fällen macht sich der Novize nach seiner »Initiationszerstückelung« auf die
Suche nach einem Meister, um die Berufsgeheimnisse zu erlernen. Die Unterweisung ist Teil
der Initiation und wird zuweilen im Zustand der Ekstase empfangen; anders gesagt, der
Schamanenmeister unterrichtet seinen Schüler auf die gleiche Weise wie die Dämonen und
Geister. Nach den Informationen, die Ksenofontov bei den Jakuten-Schamanen
gesammelt hat, nimmt der Meister die Seele des Novizen mit sich auf eine lange ekstatische
Reise. Sie beginnen, einen Berg zu besteigen. Von dort oben zeigt der Meister dem Novizen
die Abzweigungen des Wegs, von denen aus andere Pfade zum Gipfel führen: dort hausen die
Krankheiten, die die Menschen quälen. Dann führt der Meister seinen Schüler in ein
Haus. Hier kleiden sich beide in Schamanengewänder und beginnen zu schamanisieren. Der
Meister offenbart seinem jünger, wie er die Krankheiten erkennen und heilen kann, die die
verschiedenen Teile des Körpers angreifen. Jedesmal, wenn er einen Körperteil nennt,
spuckt er ihm in den Mund, und der jünger muss den Speichel schlucken, um die »Wege des
Unheils der unteren Welt« kennenzulernen. Schließlich führt der Schamane seinen
Schüler in die obere Welt, zu den himmlischen Geistern. Von nun an besitzt der jünger
»geweihtes Fleisch« und kann seinen Beruf ausüben."
Es gibt auch öffentliche Initiationszeremonien,
vor allem bei den Burjäten, den Gold, den Altaiern, den Tungusen und den Mandschu. Die
Zeremonien der Burjäten gehören zu den interessantesten. Der Hauptritus enthält einen
Aufstieg. Man befestigt in der Jurte eine starke Birke, deren Wurzeln sich im Herd
befinden, während der Wipfel aus dem Rauchloch herausragt. Diese Birke heißt udeshi
bürkhan, »der Türhüter«, denn sie öffnet dem Schamanen den Himmel. Sie bleibt
innen im Zelt und dient als Kennzeichen der Schamanenwohnung. Am Tage der Weihe klettert
der Kandidat auf den Gipfel der Birke - nach einigen Überlieferungen mit einem Schwert in
der Hand - und ruft, sobald er aus dem Rauchloch herauskommt, laut die Götter um Hilfe.
Dann begeben sich der Meisterschamane - »Schamanenvater« genannt -, der Lehrling und
alle Anwesenden in einer Prozession auf einen Platz außerhalb des Dorfs, wo am Vorabend
im Hinblick auf die Zeremonie eine große Zahl von Birken gepflanzt worden ist. An einem
bestimmten Punkt neben einer Birke macht die Prozession halt: man opfert einen Bock, und
der Kandidat wird mit nacktem Oberkörper an Haupt, Augen und Ohren mit dem Blut gesalbt,
während die anderen Schamanen das Tamburin schlagen. Der »Schamanenvater« steigt nun
auf eine Birke und macht an ihrem Wipfel neun Einschnitte. Der Kandidat steigt nun
seinerseits hinauf, wobei ihm die anderen Schamanen folgen. Dabei fallen sie alle in
Ekstase - oder täuschen Ekstase vor. Nach einer Information von Potanin muss der Kandidat
neun Birken ersteigen, die ebenso wie die neun Einschnitte die neun Himmel symbolisieren.
Wie Uno Harva deutlich erkannt hat,
erinnert die burjätischen Schamaneninitiation an gewisse Zeremonien der Mitrasmysterien.
So gemahnt die Reinigung des Kandidaten durch das Blut eines Bockes an das
taurobolium,
den Hauptritus der Mitrasmysterien, und sein Erklettern der Birke an den Mysten des
Mithras, der eine Leiter mit sieben Sprossen erklimmt, die nach Celsus die sieben
Planetenhimmel darstellen. Die Einflüsse des antiken Nahen Ostens sind fast überall in
Zentralasien und in Sibirien zu erkennen, und der Initiationsritus des Burjäten-Schamanen
muss wahrscheinlich zu den Beweisen für diese Einflüsse gezählt werden. jedoch ist
hinzuzufügen, dass die Symbolik des Weltenbaums und der Initiationsritus der Besteigung
einer Birke schon vor den aus Mesopotamien und dem Iran kommenden Kulturelementen in
Zentral- und Nordasien vorhanden war. Auch wenn die Auffassung von den sieben, neun oder
sechzehn Himmeln - die für Asien und Sibirien so charakteristisch ist - sich letzten
Endes von der babylonischen Vorstellung der sieben Planeten herleitet, so ist die Symbolik
des Weltenbaums als axis mundi nicht spezifisch babylonisch.
Diese Symbolik ist fast universell und in Kulturschichten bezeugt, wo
man vernünftigerweise keine mesopotamischen Einflüsse vermuten kann.
Was man vom Initiationsritus des burjätischen Schamanen in
Erinnerung behalten muss, ist die Tatsache, dass man glaubt, der Neophyt steige zum Himmel
auf, um geweiht zu werden. Mit Hilfe eines Baums oder Pfahls in den Himmel aufsteigen ist
auch der Hauptritus der altaischen Schamanensitzungen. Die Birke oder der Pfahl werden mit
dem im Zentrum der Welt errichteten Baum oder Pfeiler verglichen, der die drei kosmischen
Zonen miteinander verbindet - Erde, Himmel, Hölle. Der Schamane kann auch, indem er die
Trommel schlagt, ins Zentrum der Welt gelangen. Denn wie uns soeben der Traum eines
samojedischen Schamanen zeigte, wird der Trommelkasten aus einem Ast des kosmischen Baums
gefertigt. Wenn der Schamane den Ton seiner Trommel hört, fliegt er in Ekstase zu dem
Baum, das heißt ins Zentrum der Welt.
Alle diese schamanischen Riten sowie andere
Bräuche und Glaubensvorstellungen, von denen wir nicht gesprochen haben, sind eng mit
einer Ideologie verbunden, die sich um den Mythos des kosmischen Baums entwickelt hat. Da
ist einerseits die Vorstellung vom Baum als Zentrum der Welt: er verbindet die drei
kosmischen Zonen, und wenn man an seinem Stamm hinaufklettert, kann man von der Erde in
den Himmel gelangen. Dieser kosmische Baum ist andererseits eine imago mundi:
symbolisch umfasst er das ganze Universum und an erster Stelle die Menschheit in ihrer
Gesamtheit. Zahlreiche sibirische Mythen stellen sich die Seelen der Menschen in den
Ästen des Baumes hängend vor. Wenn die Zeit der Geburt für sie kommt, schickt Gott die
Seele auf die Erde. Andere Mythen erzählen, dass die Seelen aller Schamanen auf einem
einzigen Baum versammelt sind: je höher der Ast ist, an dem die Seele hängt, desto
stärker wird der Schamane sein. Schließlich gibt es zahlreiche Glaubensvorstellungen,
die sich auf das mystische Verhältnis zwischen den Schamanen und ihren Bäumen beziehen.
jeder Schamane besitzt einen Baum, auf den er sich im Geiste flüchtet, wenn er im Kampf
von anderen Schamanen besiegt worden ist. Wenn der Baum gefällt wird, stirbt der
Schamane.
All das deutet - wie uns scheint - darauf hin, dass der Schamanenbaum
dasselbe Ansehen genießt wie der kosmische Baum, dass er folglich geeignet ist, von dem
Schamanen als Mittel benutzt zu werden, ins Zentrum der Welt zu gelangen, das heißt ins
Herz der Wirklichkeit, des Lebens und des Heiligen.
Die Besteigung des Baumes führt den sibirischen Schamanen in den
Himmel. Ähnlichen Ritualen sind wir begegnet, als wir einige Initiationszeremonien Süd-
und Nordamerikas untersuchten. Fügen wir nun noch hinzu, dass die Besteigung von Bäumen
auch für die schamanischen Initiationen einiger amerikanischer Völker charakteristisch
ist. Die Initiation der araukanischen Machi enthält die rituelle Besteigung eines Baumes
oder eines entrindeten Stammes bis zu einer Plattform, auf der die Novizin ein Gebet an
den Gott richtet. Der karibische Pujai erlebt einen ekstatischen Aufstieg zum Himmel,
indem er auf eine Plattform steigt, die von der Decke der Hütte an mehreren
zusammengedrehten Seilen herunterhängt: wenn die Seile sich aufrollen, lassen sie die
Plattform sich immer schneller drehen.
Aus: Mircea Eliade, Das Mysterium der
Wiedergeburt Frankfurt 1997
Weiterführende
Literatur von Mircea Eliade, dem Kenner des Schamanismus par
excellence.
TOP |